Hard-Boiled Wonderland und das Ende der Welt

Gefangen zwischen der "Realität", dem futuristisch angehauchtem modernen Tokyo, in dem gerade ein Datenkrieg tobt, und einer surrealistischen, märchenhaften Traumwelt, die es nicht erlaubt, seinen eigenen Schatten mit sich zu führen - in dieser Lage befindet sich gerade der Protagonist aus Murakamis "Hard-Boiled Wonderland und das Ende der Welt". Doch in welcher wird er überleben?
Ohne zu wissen, wohin er geleitet wird, findet sich der Held zu Beginn des Romans in einem Fahrstuhl wieder, welcher sich nur unmerklich bewegt und so langsam sein Misstrauen erweckt. Wohin fährt ihn dieser Fahrstuhl? Und vor allem: Warum das ganze? Erst allmählich erfährt er, dass er zwischen die Fronten eines tobenden Datenkrieges zweier großen Organisationen geraten ist, dem System, welches die Daten beschützt, und der "Factory", die versucht, diese zu stehlen und auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen. Er selbst als "Calcutec", ein Mitarbeiter des Systems, hat eine Art Black-Box ins Gehirn implantiert bekommen, die es ihm ermöglicht, Daten mithilfe seines Unterbewusstseins zu verschlüsseln, ohne den Inhalt zu erfahren.
Als ein leicht chaotisch anmutender verwestlichter Japaner, der gerne Whisky trinkt und Rock'n'Roll hört, versucht er Stück für Stück dem Rätsel seiner eigenen Existenz auf die Spur zu kommen. Beginnend mit einem Besuch bei einem genialen Wissenschaftler, der weit unter der Erde sein geheimes Labor führt und ihn von düsteren, fischartigen Kreaturen des Untergrunds, die sich mit den Semiotecs, den Mitarbeitern der Factory verbündet haben, bekommt er von ihm ein mysteriöses Geschenk überreicht. Nach zahlreichen Nachforschungen, bei denen unser Held zudem eine hübsche Bibliothekarin kennen lernt, entpuppt sich dieses als der Schädel eines Einhorns.
Parallel zu dieser spannenden Geschichte im modernen Tokyo beinhaltet der Roman einen weiteren Handlungsstrang über eine märchenhafte Traumwelt. Angekommen in einer mysteriösen Stadt, genannt "The End of the World", welche von einer sehr hohen, unüberwindbaren Mauer umgeben ist, bekommt das Alter Ego des Protagonisten, seines Schattens beraubt, den Job des Traumlesers zugewiesen. Während er Nacht für Nacht zusammen mit einer jungen Bibliothekarin in der Bibliothek sitzt und alte Träume aus Einhornschädeln liest, versucht er in seiner restlichen Zeit die Rätsel dieser Stadt, die von Einhörnern und seelenlosen Menschen bevölkert ist, zu erforschen um eine Flucht vorzubereiten. Doch langsam scheint auch er seine Seele und seine Erinnerungen zu verlieren.
Sehr geschickt hat der Kultautor aus Japan es hier geschafft, zwei spannende, völlig verschiedene Geschichten zu verbinden und dieses fabelhafte, verrückte, und doch sehr poetische Werk zu schaffen. Jeweils ein Kapitel aus der einen sowie eines aus der anderen Welt erzählend, nähern sich die zwei einzelnen Geschichten einander an. Wie auch der Protagonist in der einen und sein Alter Ego in der anderen Welt, schafft es Murakami, auch den Leser selbst rätseln zu lassen, wie alles zusammengehört. Ob offensichtlich oder versteckt lassen sich viele verschiedene Motive in beiden Geschichten festmachen, die beide miteinander verbindet. Dabei ist es sehr interessant, dass der Roman ganz ohne Eigennamen der Charaktere auskommt, sie werden einfach nur z.B. als "der Professor" oder "das dicke Mädchen" bezeichnet, obgleich diese in vielschichtiger Tiefe behandelt werden. So hat Murakami mit dem Protagonisten eine sehr realistische, charismatische Figur erschaffen, in dessen tragischen Schicksal sich der Leser leicht einfühlen und mit ihm identifizieren kann: Ein intellektueller, 'cooler' Typ, der für jede Situation einen passenden cineastischen oder literarischen Vergleich parat hat, das Paradebeispiel für Konsum, der es dennoch schwer hat, sein eigenes Leben in den Griff zu bekommen.
Murakamis Vorlieben für Franz Kafka und Fjodor Dostojewski spiegeln sich auch in diesem Roman an seiner expressionistischen und existenzialistischen Grundthematik wieder. Hier ist vor allem die Konfrontation des Protagonisten mit seiner eigenen Existenz zu nennen. Er findet sich mehr oder weniger plötzlich in einer Situation wieder, die als gegeben angenommen wird, und er so selbst versuchen muss, mit ihr fertig zu werden. Der Mensch ist sozusagen zur Freiheit verurteilt.
Schlussfolgernd lässt sich sagen, dass dieser Roman für all diejenigen geeignet ist, die fesselnde, action-reiche und doch zugleich ruhige poetische Romane lieben, die trotzdem in eine vielschichtige, philosophische Tiefe gehen, und so ein anspruchsvoll zu lesendes, jedoch lohnenswertes Werk darstellen.

Quelle: Michael Thomas

Ausserdem vom selben Autor: «Mister Aufziehvogel».

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