Wir & ich

Wenn es so etwas gibt wie ein familiäres Nervensystem, dann ist es bei den Vandersandens immer kurz vor dem Kollabieren. Die Familie lebt in einer Villengegend auf einem Berg, ein Viertel wie eine Bastion, in dem kaum Besuch erwartet wird, es sei denn, er kündigt sich Wochen vorher an. Die Vandersandens sind immer bemüht, Familienglück zu inszenieren, Schein ist alles, auch wenn es noch so viel Kraft kostet, ihn aufrechtzuhalten.

Mieke, die Mutter, rund um die Uhr damit beschäftigt, das schützende Heim in Schuss zu halten, ergibt sich ganz in die Rolle der desperate housewife. Staubflusen sind ihre erklärten Feinde, dagegen liebt sie die Fransen ihrer Perserteppiche. Sie kämmt sie hingebungsvoll, wenn ihre Nerven verrückt spielen oder wenn ihre Tochter Sarah sie mit ihrer permanenten Gleichgültigkeit provoziert.

Anders als Mieke, die aus altem Geldadel stammt, kommt ihr Mann Stefaan aus einfachen Verhältnissen. Beharrlich hat er sich zum Manager eines Pharmaunternehmens hochgearbeitet. Ein Musterknabe, ein Pflichterfüller und ein devoter Sohn seiner resoluten Mutter Melanie, die ihn bei jeder Gelegenheit kleinmacht. Ein Introvertierter, der die Melancholie allerdings weniger gut unter Verschluss halten kann als seine Frau. Trost schenken sich die Vandersandens gegenseitig kaum. Jeder bleibt letztlich ein einsamer Komet auf seiner Umlaufbahn.

Eines Tages kreuzt plötzlich Jempy in der Familien-Festung auf. Onkel Jempy, der im Knast sitzt und gelegentlich Freigang bekommt. Der die Allüren eines Playboys hat und eine beachtliche Zahl von Verehrerinnen. Und der eine wohlsituierte Schwester hat — Mieke.

Einerseits empfindet die Hausherrin einen Horror vor dem Rüpel mit den schlechten Manieren, der in ihren Schubladen herumschnüffelt. Andererseits gibt es eine Seite in Miekes Herzen, die sich nach Leichtigkeit sehnt. Genau diese Seite verkörpert Jempy für sie, auch wenn sie sich das nicht wirklich eingesteht. Anziehung und Abwehr. Jempy wird eine nicht ganz unwillkommene Abwechslung in ihrem Leben zwischen Alarmanlagen und Silberbesteck.

Während Mieke jedoch letztlich in ihrem Leben gefangen bleibt, hält es Sarah im goldenen Käfig des Elternhauses irgendwann nicht mehr aus. Sie will nicht so werden wie ihre Eltern, die Kontrollfreaks. Sie macht Musik, schreibt Songs, sogar, wie sich zeigen wird, mit einigem Erfolg. Als plötzlich eine Katastrophe über die Familie hereinbricht, die Mieke an ihre Grenzen führt, sucht Sarah in New York das Weite.

Saskia de Coster schaut systematisch hinter alle Fassaden und lässt dabei selbst den Gartenschuppen nicht aus. Die Belgierin legt ihre Protagonisten auf den Operationstisch und seziert sie kaltblütig. Ganz nebenbei gibt es Lektionen fürs Leben: Dass die Risiken überall lauern, vor allem dort, wo man am wenigsten mit ihnen rechnet. Und dass es gerade die Unsicherheiten sind, die dem Leben zwar oft Elend, aber gelegentlich auch Glanz verleihen.

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